Der Unterschied zwischen Werturteilen und moralischen Urteilen über andere:
Zitat:
Rosenberg unterscheidet zwischen moralischen Urteilen und Werturteilen. Wenn wir nun ein Verhalten antreffen, das unserem Werturteil widerspricht, neigen wir dazu, die andere Person moralisch zu verurteilen. Rosenberg schlägt vor, das Werturteil zu verteidigen, ohne die Person zu verurteilen, so kann das Verhalten von der Person getrennt werden.
Das Werturteil betrifft also ein allgemeines Urteil über eine Sache, das moralische Urteil bewertet Personen.
Es ist sehr logisch, dass wir überhaupt nicht in der Lage sind, eine andere Person zu bewerten. Wir werden niemals einen anderen Menschen gut genug kennen, um für seine Vielfalt einen so einfachen Begriff finden zu können. Jeder Mensch hat seine Lebensgeschichte, und darin ist er mal "gut" und mal "böse" gewesen.
Wenn ich einen Menschen z.B. als "dumm" bewerten wollte, dann müsste ich mir zunächst einmal Gedanken machen, ob ich das überhaupt beurteilen kann. Auch ein IQ-Test gibt mir nicht wirklich Aufschluss darüber, denn es hängt gewiss auch von der Tagesform und den Umständen ab, wie man den besteht. Außerdem muss ich zunächst mal darüber nachdenken, ob "Dummheit" und "Klugheit" wirklich ausschließlich eine Frage des IQ sind. Ist es nicht auch eine Frage von Wissen? Ist es nicht auch eine Frage von "Weisheit"?
Ich müsste ihn seit seiner frühen Kindheit stets begleitet haben, um sicher sein zu können, dass er auch wirklich dumm ist. Denn womöglich ist die von mir beobachtete "Dummheit" eine Reaktion auf mein eigenes Verhalten, und anderen Leuten gegenüber blüht dieser Mensch auf und zeigt plötzlich einen allgemeinen Durchblick, den ich ihm nie zugetraut hätte. Ich müsste ihn also unsichtbar begleitet und beobachtet haben, wie ein Schutzengel oder wie der liebe Gott. Und ich müsste dabei in ihn reingesehen haben, denn vielleicht hat er seine klugen Gedanken nur heimlich gehabt und nicht ausgesprochen.
Moralische Urteile über andere Personen werden also nicht nur häufig als beleidigend empfunden und dienen nicht der Sache, sie sind auch ein Lüge. Und zwar deshalb, weil man damit eine Aussage über etwas macht, von dem man leicht wissen kann, dass man nicht viel darüber weiß. Es ist genau so, als ob mich jemand fragt, wie viele Stufen der Eiffelturm hat, und ich antworte einfach: 99. Wenn der Frager die Stirn runzelt und sagt, es seien doch gewiss mehr Stufen, dann antworte ich schulterzuckend: "Für mich sieht das auf der Postkarte nach 99 Stufen aus."
Ein Urteil über eine andere Person ist auch dann ein Urteil über eine andere Person, wenn es als eigenes Gefühl verpackt wird. Rosenberg nennt dies
Pseudogefühl.
Zitat:
Erkennen lassen sich Pseudogefühle an der Formulierung "Ich habe das Gefühl, dass..." während echte Gefühle in der deutschen Sprache immer auch mit "Ich bin..." anstatt "Ich fühle..." ausgedrückt werden können.
Typische Beispiele für Pseudogefühle sind:
* "du gibst mir das Gefühl, ich sei nichts wert"
* "du vernachlässigst mich"
* "ich fühle mich provoziert"
* "ich habe das Gefühl, du willst dich drücken"
* "ich fühle mich ausgenutzt"
* "ich fühle mich total unter Druck gesetzt"
Eine neue Qualität von Pseudogefühlen wird sicherlich erreicht, wenn sie nicht mehr nur dafür benutzt werden, dem anderen Vorwürfe zu machen und sich somit in der Opferrolle zu präsentieren, sondern z.B. in folgendem Sinne:
* "ich habe das Gefühl, dass du ein altes Arschloch bist"
Diese Art des Gebrauchs von Pseudogefühlen hat Rosenberg erst gar nicht erwähnt, vermutlich, weil er nicht auf die Idee gekommen ist, dass jemand das noch für "Gewaltfreie Kommunikation" halten könnte. Auch als Beobachtung ließe sich eine Beleidigung trefflich formulieren, z.B.:
* "ich beobachte, dass du sehr dumm bist"
* "ich beobachte, dass ich die Assoziation habe, dass du ein altes Arschloch bist"
Grundlage der Methode der Gewaltfreien Kommunikation ist also eine Unterscheidung von Gefühlen, Gedanken und Beobachtungen. Sinn der Gewaltfreien Kommunikation ist, dass man von der *eigenen* Perspektive, den *eigenen* Gefühlen und Werten spricht, und nicht von all dem, was man in den anderen an Negativem hineinprojiziert.
Damit sind wir wieder bei der Unterscheidung von Werturteilen und moralischem Bewerten angekommen. Die eigenen Werte existieren unabhängig von anderen Personen und können dargestellt werden, ohne dass man über andere spricht. Die andere Person wird gewiss auch ihre Werte haben. Es ist vernünftiger, sie die selbst erklären zu lassen.