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Ich kann mich nicht sehen

original Thema anzeigen

01.10.09, 10:05:07

Coyote

Ein ca.sechsjähriges Kind weint leise vor sich hin.
Die Mutter fragt, was los ist.
Das Kind zuckt mit den Schultern und kann dies sehr schwer erklären.
Die Mutter gibt nicht auf. Schließlich äußert sich das Kind so:
"Ich habe keine Freunde" (ist ständig mit Freunden unterwegs)

"Ich kann mich nicht sehen" (kann ja in den Spiegel schauen)

"Ich bin so alleine" (Eltern sind immer für das Kind da und Freunde auch)

Wochen später liegt das Kind in seinem Zimmer auf dem Fussboden und weint, ist völlig verzweifelt.
Auf die Frage was denn los ist, die Antwort:

"Ich kann mein Blut nicht sehen"

Kann jemand dazu vielleicht etwas sagen? Oder muss man da mehr über die Familienverhältnisse wissen?
01.10.09, 20:49:35

anne1

Hallo, Coyote,
das Folgende sind alles bloß Ideen ohne Gewähr:
1. Wirkt das Kind in der übrigen Zeit auf alle befragbaren Personen überwiegend normal und glücklich? (Lehrer, Verwandte, Eltern von Freunden) Dann würde ich auf existenzielle Erkenntnisse tippen: Jeder Mensch ist im Grunde allein, wir alle müssen sterben, warum lebe ich überhaupt?
2.Wirkt das Kind oft unglücklich? Vielleicht fühlt es sich tatsächlich einsam und unverstanden, und hat in Wirklichkeit keine engen Freunde, sondern nur Spielkameraden?
3.Mit sechs Jahren können Kinder oft noch nicht so gut Aussagen über sich selbst, ihre Gefühle und die Gründe dafür machen.
Alles Gute,
anne
01.10.09, 20:58:56

feder

Zitat:
"Ich kann mich nicht sehen" (kann ja in den Spiegel schauen)


Erinnert mich gerade an den Maler Magritte. Im Spiegel sieht sie ja nicht sich selber, sondern ihr Abbild.

Weiss nicht, irgendwie existentielle Erkenntnisse? Hat das Kind irgendwo etwas aufgeschnappt und bezieht es jetzt auf sein Dasein?
Nur weil andauernd Leute um es herum sind, muss es sich nicht verstanden fühlen. Vielleicht etwas in die Richtung?
07.10.09, 17:01:11

Coyote

Zitat von anne1:
1. Wirkt das Kind in der übrigen Zeit auf alle befragbaren Personen überwiegend normal und glücklich? (Lehrer, Verwandte, Eltern von Freunden) Dann würde ich auf existenzielle Erkenntnisse tippen: Jeder Mensch ist im Grunde allein, wir alle müssen sterben, warum lebe ich überhaupt?


Ja, immer fröhlich, lebhaft, interessiert. Saß in der Küche, sah der Mutter zu und weinte plötzlich leise vor sich hin. Existenzielle Erkenntnisse könnte sein, nur dies schon bei einem sechsjährigen? Kann durchaus sein.

Zitat von anne1:
2.Wirkt das Kind oft unglücklich? Vielleicht fühlt es sich tatsächlich einsam und unverstanden, und hat in Wirklichkeit keine engen Freunde, sondern nur Spielkameraden?


Denke ich auch. Freunde zur Ablenkung (von irgendetwas)? Oder Zeitvertreib? Mit denen er nicht wirklich etwas anfangen kann?
Unglücklich wirkte er nie, aber er sagte später immer wieder mal, dass er keine Freunde habe, obwohl oft welche da waren oder er bei ihnen und es aussah, dass alle gut zurechtkommen. Er war nicht schüchtern, eher tonangebend, spielte aber auch nie richtig mit ihnen zusammen. Sie mit seinen Spielsachen und er irgendwas anderes.

Zitat von feder:
Nur weil andauernd Leute um es herum sind, muss es sich nicht verstanden fühlen. Vielleicht etwas in die Richtung?

Denke auch, er fühlte, spürte etwas "anders" und konnte es nicht erklären, ausdrücken, ängstigte ihn.

Zitat von anne1:
3.Mit sechs Jahren können Kinder oft noch nicht so gut Aussagen über sich selbst, ihre Gefühle und die Gründe dafür machen.


Ja, ich glaube, dass er etwas anderes aussagen wollte. Einiges glaube ich entzwischen entschlüsselt zu haben.

"Ich kann mein Blut nicht sehen ..." darüber war er sehr verzweifelt. Er hatte um diese Zeit Filme gesehen, wo für Kinder Comicfiguren auf abenteuerliche Weise den Körper erklärten. Die Blutplätchen waren kleine rote Männchen. Wahrscheinlich hatte er sich vorgestellt, dass es sich genauso in seinem Körper abspielt.

Dass er sagte: "Ich kann mich nicht sehen", ist noch etwas rätselhaft. Wahrscheinlich war ihm bewusst. dass sein Spiegelbild nur sein Abbild ist.

Vielleicht Anfänge der Identitätssuche? "Wer bin ich?"
Es kann auch einfach nicht viel zu bedeuten haben und man sorgt sich unnötig.

Auch der Satz "Ich habe Angst" ist merkwürdig, zumal er nicht sagen konnte, wovor. Schüchtern war er nie, redete immer drauf los. War immer mutig ...
Ist wohl jetzt nicht mehr so wichtig. Gewisse Sätze beschäftigen mich halt lange.
07.10.09, 19:13:30

Whistlebow

geändert von: [55555] - 07.10.09, 19:49:48

[Zitierung aktiviert, mfg [55555]]

Zitat:
Ich kann mich nicht sehen


Die Definition von Ich geht durchaus über visuelle Eindrücke hinaus. Sehen bezieht sich nicht unbedingt auf die äusseren Augen.
Ich würde hinterfragen, die Begrifflichkeiten "Ich" und "sehen" Kleiner Assessing-Queue: Umgangssprachlich könnte man ja auch sagen - Ich sehe mich nicht in deinen Planungen. Würdest du auf so eine Aussage auch mit eindimensional visuell referieren mit deinem physischen Spiegel?

Zitat:
Ich habe keine Freunde.


Deutlicher kann der Hinweis doch nicht mehr sein. Hinterfrage "Freunde".

Zitat:
Ich bin so alleine


Die physische Aussenwelt, die du erklärungsmässig referierst <Eltern, Freunde> ist doch nun wirklich nur eine von vielen, mit Sicherheit aber nicht die wichtigste.

Ich bin Autist und ich kenne diese Einsamkeit. Die empfinde ich genauso, wenn um mich rum Leute sind und vor sich hin lärmen, was sie wohl "Kommunikation" nennen.

Eure Erklärungsversuche auf
Zitat:
Ich kann mein Blut nicht sehen
scheinen plausibel. Hier aber auch ein kleiner Hinweis aus eigenener Erfahrung (wobei ich selber keinen Kontakt zu anderen Autisten habe, somit nicht weiss, ob dies auch für andere gilt). An mir selber habe ich schon sehr frühzeitig im Kindesalter eine enorm gesteigerte sensitive Erfahrung im eigenen Körpergefühl erfahren. Es ist, als wenn ein Schaltkreis im Gehirn mir Statusmeldungen über Organe, Kreislauf, Hautspannung, Flexibilität der Blutleitungen, etc. liefert und immer wieder habe ich gemerkt, eigentlich schon vor dem Eintritt von Krankheiten, wie sich vor dem inneren Auge ein Bild von Fehlfunktionen in der Maschine "Körper" abzeichnete. Erst viele Jahre später wurde mir erstmals so richtig bewusst, das nicht jeder Mensch diesen inneren, ja wie soll ich sagen, permanenten "Status-Check" hat. Irgendwie fahre ich diesen Körper wie ein Auto, wo ich doch auch sofort höre, wenn der Motor nicht rund läuft, der Vergaser stottert, etc. In diesem Zusammenhang kann ich mir durchaus vorstellen, mein Blut auch nicht mehr zu sehen, dann aber im Sinne von der Blutkreislauf ist beeinträchtigt. Und mit 6 Jahren hätte ich das mit Sicherheit nicht so explizit verbalisieren können, sondern eher allgemein gehalten, im Sinne von "ich kann es nicht mehr sehen".
Woher soll man denn in dem Alter wissen, das andere anders funktionieren?????

Bitte meine Ansicht mit Vorsicht lesen. Ich bin Autist. Weiss nicht, ob das Kind auch Autist ist. Weiss nicht, ob auch andere Autisten so einen Erfahrung mit Ihrem Körper haben. Wenn das Kind allerdings autistisch wäre, dann könnte das durchaus eine ernstzunehmende Fehlfunktions Meldung gewesen sein.

Entscheidend wäre da das vorsichtige Hinterfragen der sensorischen Erfahrung "sehen".

Heute mit 50 Jahren denke ich, die meisten "Normalen" sind in der Tat beim "Sehen" extrem eingeschränkt, in der Regel auf visuelles beschränkt. Das Sehen von Harmonie, Rhytmus, Algorhytmen, Gewichtungen, Beziehungen beliebiger Manifestationen in beliebigen Zuständen untereinander und in Interaktion mit dem Betrachter, ist in der Regel bestenfalls rudimentär vorhanden. Da ist schon keine Sensorik vorhanden, wenn es um einfachste Mathe-Aufgaben geht, ob ein Ergebnis richtig, somit harmonisch ist, oder einfach nicht stimmen kann. Und mangels entsprechender Sensorik rechnen Sie, reduzieren also den kreativen, intuitiven Prozess der Schaffung eines harmonischen Gleichgewichtes zwischen Zahlen- und Beziehungsmengen zwischen beiden Seiten einer Gleichung auf Regeln und Zahlen, also rein visuell Greifbares.

Und so ist das auch mit dem "Sehen".

So zumindest meine Lebenserfahrung.
07.10.09, 22:38:07

Hans

Ich habe schon mit fünf ganz schön Philosophisch über das Leben und Gott nachgedacht,
konnte es aber auch nicht zum Ausdruck bringen.
Meine Mutter hat sich nur gewundert, was ich für einen "Blödsinn" rede.
Ich weiß meine Sätze von damals noch genau und deren Sinn stimmt für mich heute noch.
Ich würde es heute nur anders ausdrücken, damit ich besser verstanden werde.
09.10.09, 22:07:29

Coyote

Zitat von Whistlebow:
Wenn das Kind allerdings autistisch wäre, dann könnte das durchaus eine ernstzunehmende Fehlfunktions Meldung gewesen sein.

Das macht mir Angst.

Zitat von Whistlebow:
Entscheidend wäre da das vorsichtige Hinterfragen der sensorischen Erfahrung "sehen".


Jetzt, nach elf Jahren nachdenkens ist es wohl an der Zeit nachzufragen ...

 
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